Ganzheitlich, wirksam und agil

 

von Kai von Rappard
erschienen im ExpertFocus 04/2019

Der Artikel beschreibt die Instrumente und Voraussetzungen einer Innovation an bestehenden Geschäftsmodellen. Start-up-unternehmen sind zwar Vorbilder für agile Arbeitsweisen, Design Thinking und Lean-Start-up lassen sich aber auch in etablierten Unternehmen wirksam einsetzen. Dies wird angesichts der rasanten Änderung des Geschäfts der Kunden aufgrund der Digitalisierung zunehmend überlebenswichtig.

Obwohl das Projekt längst den Kinderschuhen entwachsen ist und George Clooney zunehmend grauer wird, hat Nespresso als Beispiel für kreative Innovation nichts von seiner Strahlkraft eingebüsst. Als erfolgreiche Wachstumsstory ist des deshalb unverändert bemerkenswert:

  • Kaffee ist ein klassisches Commodity, es gibt ihn seit über 1000 Jahren. Am Produkt ist nichts wirklich neu, dennoch sind Nespresso-Kunden bereit, gegenüber herkömmlichen Kaffeekonsumenten rund das Siebenfache auszugeben.
  • Nespresso wäre 1987 mit demselben Produkt um ein Haar untergegangen. Erst mit der Umgestaltung des Geschäftsmodells, insbesondere mit der innovativen Vermarktung und dem Vertrieb der Kapseln über Boutiquen, wurde der Kaffee zum Life-Style-Erfolgsprodukt.

Die Nespresso-Story belegt, dass sich auch ein traditionelles Grossunternehmen – in Teilen – erneuern kann. Das erfordert zwar Mut und den Willen, ausgetretene Pfade und langjährige Gewohnheiten zu verlassen, macht aber auch Hoffnung. Wenn sich mit Kaffee grundlegend innovieren lässt, dann müsste das doch eigentlich fast überall funktionieren.

 

1. TREUHANDBRANCHE: WENDEZEIT?

Die Treuhandbranche zeigt seit Jahren deutliche Sättigungsspuren. Wachstum gibt es wenig und mit steigender Unternehmensgrösse lassen sich keine echten Skalenerträge mehr ausmachen. Die Stundensätze stagnieren und eine Vielzahl an geleisteten Stunden kann nicht verrechnet werden, was sich belastend auf die Produktivität der Branche auswirkt. Gemäss dem Treuhandbarometer reichen die grossen Herausforderungen von der zunehmenden Regulierungsdichte über die Auswahl und Qualifizierung von Mitarbeitenden bis hin zur Suche nach neuen attraktiven Tätigkeitsfeldern. Die Digitalisierung ist in ihrer vollen Wirkung heute noch schwer zu greifen, es ist aber davon auszugehen, dass sie zunehmen dann den Fundamenten bestehender Geschäftsmodelle rütteln und viele stürzen wird.  Die Hypothesen und Szenarien zum technologischen Wandel gehen weit über  Effizienz-steigerungen in den Bereichen der Datenlieferung, -aufbereitung und der Automatisierung der Buchführungen hinaus. In der Delegation nicht wirklich wertschöpfender Tätigkeiten an die IT sollte die Branche ihre Chancen suchen. Zum einen verschwinden mit der Digitalisierung in der Tendenz die ohnehin eher langweiligen Arbeitsprozesse. Zum anderen trifft das digitale Donnerwetter auch die Kunden und schafft Potenzial für Beratungsleistungen und damit für echten Mehrwert am Kunden. Neue Geschäftsmodelle sind gefordert und werden entstehen. Für die Angebote der Mitgliedunternehmen von Expertsuisse stellen sich zwei grundlegende Fragen:

  • Wie beschreibt, analysiert und entwickelt man mit dem Kunden ein für ihn attraktives und tragbares Geschäftsmodell?
  • Wie werden die Instrumente der Geschäftsmodellierung optimal in einem zunehmend dynamischen und unsicheren Umfeld genutzt?

Start-up-Unternehmen haben in der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle den grossen Vorteil, dass sie keine Rücksicht auf Bestehendes nehmen müssen. Die Unternehmenskultur ist der mächtige Abdruck vergangener Erfolge und nährt die Sehnsucht, dass doch alles so bleiben möge, wie es ist. Neue Ideen, insbesondere wenn sie die alten Errungenschaften infrage stellen, akti-vieren unmittelbare Immunisierungs-und Entschleunigungskräfte im alten System. Auch wenn Nespresso und andere Traditionsunternehmen die Denk und Handlungsweisen von Start-ups – letztendlich unter erschwerten Bedingungen – übernehmen konnten, taugen Start-up-Firmen klar besser als Vorlage für wirksame Geschäftsmodell-Innovationen.

 

2. BUSINESS MODEL CANVAS: SCHAFFEN VON WERTEN

Wer das Loblied auf wirksames Business-Modelling anstimmt, kommt um den Abgesang auf die bewährten Businesspläne nicht herum. Businesspläne passen für etablierte, insbesondere grosse Unternehmen, in denen es um die Ausformulierung und die Erwartungen mit alten Kunden und bekannten Produkten geht. Diese Unternehmen sind auf die effiziente und verlässliche Exekution eines vorliegenden und oft stabilen Geschäftsmodells ausgerichtet.
In neuen Geschäften gibt es erst einmal nichts zu exekutieren; sie sind Start-ups und somit auf unbestimmte Zeit auf das Suchen, Lernen und Korrigieren ausgerichtet. Ein Businessplan hilft nicht, wenn er den bewährten, aber falschen Kennzahlen folgt, und wenn er – wie es die Regel ist – innerhalb der eigenen vier Wände geschrieben und auf schönem Papier ausgedruckt wird. Der Bestsellerautor Steve Blank gilt im Silicon Valley als der Begründer des Customer Development Process und behauptet, dass kein Businessplan den Erstkontakt mit dem Kunden überlebt. Oder, wie es Boxlegende Mike Tyson zu den Strategien seiner Gegner ausdrückte:
«Everybody has a plan until they get punched in the mouth.» Den Mangel an gutem, intensivem Kundendialog nennt die  Beratungsgesellschaft Simon & Kucher als Grund dafür, dass über 70% neu lancierter Produkte und Dienstleistungen hinter den Erwartungen der Unternehmen zurückbleiben. 

Nespresso wurde nicht durch sein Produkt, sondern durch ein raffiniertes, stark auf die Kundenwünsche ausgelegtes Geschäftsmodell zum Blockbuster. Ein bestechender Vorteil der Business Model Canvas von Osterwalder/Pigneur (vgl. Abbildung 1) liegt darin, dass sie Ordnung in das babylonische Begriffsgewirr rund um das Geschäftsmodell bringt. Sie liefert eine gemeinsame, nützliche Sprache, um sich gezielt und verständlich mit einer inhaltlich komplexen Geschäftslogik beschäftigen zu können. Das Konzept mit seinen neun Bausteinen verbindet das Kunden-beziehungsmanagement mit den wesentlichen Ressourcen und Wertschaffern und zeigt auf, womit und wie Geld verdient wird. In der Mitte – gewissermassen als Scharnier –befindet sich das Wertangebot – die Value Proposition. Die Canvas lässt sich intuitiv rasch erfassen, allerdings lebt ein Geschäftsmodell aus der Interaktion der einzelnen Felder miteinander. Um das Modell als wirksame Blaupause für Strategie und Innovation zu nutzen, darf es in seiner Komplexität aber nicht zu stark vereinfacht werden.

 

 

3.VALUE PROPOSITION CANVAS: DIE BRÜCKE ZUM KUNDEN

In ihrem Folgewerk haben Osterwalder/Pigneur die alte Canvas um  eine neue Value Proposition Canvas ergänzt (vgl. Abbildung2). Mit diesem Modell wird aus zwei Überlegungen eine wichtige Lücke geschlossen: Erstens lässt sich damit das komplexe Geflecht an Stakeholdern auf Kundenseite (Entscheider,Nutzer, Beeinflusser, Behördenvertreter, Politik usw.) entwirren und jeweils separat bearbeiten. Kunden sind immer Menschen mit ihren unterschiedlichen und ganz spezifischen Bedürfnissen. Zweitens zwingt die Value Proposition  Canvas das gesamte Unternehmen, das Geschäft gemeinsam und bedingungslos aus der Kundenoptik zu betrachten und zu gestalten.
Die Value Proposition Canvas baut die Brücke zwischen den beiden Boxen (von rechts nach links) und beginnt rechts mit der Frage, wofür der Kunde wirklich bezahlt. Eine wirksame Auseinandersetzung mit dem Geschäftsmodell sucht nach Tiefe bei den Aufgaben, den Nöten und den Wünschen des Kunden und führt so zu den echten, für ihn bedeutsamen Values. Alle unechten Wertbeiträge sind vergebene Liebesmüh und damit ein interessantes Kostensenkungspotenzial. Geschäftsmodell-Diskussionen sind in Gruppen zu führen, und sie sind nie einfach, aber immer äusserst wertvoll.

 

4. CUSTOMER VALUE: DIE EINZIGE WAHRHEIT IM BUSINESS

Strategiewerkzeuge wie Business Model Canvas und Value Proposition verfügen wie Lean-Start-up und Design Thinking über eine riesige Fangemeinde, insbesondere in der Welt neuer  Unternehmen. Sich deshalb mit dem Hinweis, kein Start-up zu sein, davon abzuwenden, greift allerdings zu kurz und wäre Fehler Nummer eins. Gerade etablierte, schlimmstenfalls auch noch erfolgreiche Unternehmen unterliegen gerne dem Trugschluss, dass sich die Wachstumstreiber der Vergangenheit linear in die Zukunft fortschreiben lassen. Das alte Strategie-Mantra «Let’s hope for the best, but prepare for the worst!» bedient man am besten mit der Skizzierung mächtiger Albtraum-Szenarien und der Simulation ihrer Wirkung auf das eigene Geschäftsmodell. Der Fehler Nummer zwei und damit eine grosse Gefahr liegt in der Perfektion. Sie hat ihre Wurzel in einer für die Branche typischen Fehlerintoleranz. Unternehmen suchen ewig nach Verbesserungen, um dem Kunden endlich die perfekte Lösung zu präsentieren, versinken dabei aber oft schon vorher im tiefen Abgrund der Selbsttäuschung. Mit der wohl wichtigsten Ausprägung aus Lean-Start-up, dem Minimum Viable Product (MVP), soll dieser Gefahr ausgewichen werden. 


Mit zunächst begrenzten Skizzen und dazu konstanten Rückmeldungen soll kontinuierlich und in effizienter Weise eine Lösung direkt am und mit dem Kunden entwickelt werden. Natürlich soll jede Innovation am Ende ihren Zweck perfekt erfüllen, aber wenn man scheitert, dann bitte möglichst rasch. Die Entwicklung über ein MVP verhindert, dass die Unternehmen entweder zu spät im Markt sind oder aber ganz am Kunden vorbei entwickeln (das Angebot war dann zwar gut, die Nachfrager haben aber versagt!).
Von den erfolgreichen Start-ups lernt man, dass sie fortwährend neue Annahmen (Hypothesen) formulieren und dass sie – wenn nötig – ebenso oft ihre Richtung wechseln (Pivoting). Die direkte Kundeninteraktion als Dreh- und Orientierungspunkt konfrontiert ein Unternehmen fortlaufend mit den zentralen Grundfragen der beiden Canvas:

  • Wer sind die Kunden? (Definition: Ein Kunde ist einer, der Nein sagen kann!)
  • Welches Kundenproblem wird gelöst?
  • Was ist die Lösung des Lieferanten und verbessert sie den Status quo beim Kunden wirklich und substanziell?
  • Wie wird die Leistung vermarktet und wie wird sie verkauft?
  • Wie skalieren Unternehmen ihr Geschäftsmodell und wie machen sie Kunden zu Fürsprechern und Multiplikatoren?

 

5. DESIGN THINKING UND LEAN-START-UP: AGILE GESCHÄFTSMODELLIERUNG

Design Thinking funktioniert nicht in einem hierarchisch dominierten Top-down-Umfeld. Die Unternehmensführung muss zudem eine Meilenstein-getaktete Projektmanagement-
Methodik durch kurze und regelmässige Feedback-Schleifen ersetzen. Die Modellierung eines neuen Geschäftsmodells ist keine Aufgabe für das stille Kämmerlein, sondern ein offener, multifunktionaler Teamprozess, idealerweise in kreativem Ambiente. Jeder trägt die Brille des Kunden, stellt die eigenen Sichtweisen auf die Probe und bringt seine Kompetenzen maximal ein. Optimismus, Empathie und Spass am Experimentieren sind zentrale Voraussetzungen, um die Gruppe durch alle sechs Prozessphasen bis zum testbereiten Prototypen zu leiten. Business Model Canvas und Value Proposition Canvas erfordern agile Zusammenarbeit, sind – wortwörtlich – die Leinwand, auf der anderen Seite steht das «künstlerische» Potenzial.

Damit soll die Wand bemalt, mit Post-its und Ideenbildern beklebt und diese mit fetten Pfeilen verbunden werden (vgl. Abbildung 3). Anfänglich erfordert es Anstrengung und Motivation, um den Teilnehmenden die spielerische Kreativität zu entlocken. Weil wir – oft trotz anderslautender Lippenbekenntnisse – Fehler wie der Teufel das Weihwasser scheuen, dauert es immer, bis die erste Idee hängt. In Start-ups sind Fehler ein integraler Bestandteil des gesamten Entwicklungsprozesses. Da es ohne sie keinen Fortschritt gibt, bewegen heute zunehmend auch gestandene Führungskräfte ihre Truppe durch Fail Conventions oder Fuck-up Nights zu einer positiv-lockeren Fehlerkultur. Sie tun der wirkungsvollen Arbeit an Geschäftsmodellen auf alle Fälle gut.

 

6. BUSINESS MODEL INNOVATION: VON EVOLUTIONÄR BIS REVOLUTIONÄR

Erfolgreiche Geschäftsmodelle sehen immer dann ziemlich einfach aus, wenn sie bereits realisiert worden sind. Der Geist eines guten Ideenfindungsprozesses lässt sich durchaus skalieren und für jedes eigene Geschäft nutzen, wenn denn die eigenen tradierten Denkpfade verlassen werden: Wie würde denn Nespresso unser Geschäft entwickeln? Dabei kann man entweder – sanft – nach ähnlichen Geschäftsmodellen suchen, in der Treuhandbranche etwa nach Dienstleistungen wie Banking, Consulting oder Real-Estate-Management.
Oder aber man wählt den revolutionären Ansatz und sucht bewusst nach Extremen: Nehmen wir mal an, Red Bull, Tesla, Booking, Airbnb usw. würden uns kaufen. Wie würden die uns in die Zukunft führen? Dieses zu Beginn immer überraschende und erst einmal gerne belächelte Vorgehen macht Sinn, wenn einerseits das Spektrum an möglichen Varianten gross erscheint und andererseits noch kein unmittelbarer Handlungsdruck besteht. Als Grundlage und Inspiration empfiehlt sich der St. Galler Business Model Navigator von O. Gassmann mit seinen 55 erfolgreichen Muster-Geschäftsmodellen. Nun geben selbst die stärksten Befürworter von Design Thinking zu, dass die Methoden nicht überall greifen. Allerdings beeinflussen sie die Arbeitskultur und die Innovationsleistung dort in positiver Weise, wo es gelingt, das Team mutig für neue Wege zu gewinnen.

 

7. FAZIT: ES GIBT NICHTS GUTES, AUSSER MAN TUT ES

Eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung von Geschäftsmodellen hilft dabei, die Kunden in schwierigen und turbulenten Zeiten bei der Gestaltung ihrer Zukunft zu unterstützen und zu beraten. Business Model und Value Proposition Canvas eignen sich genauso für eine intensive Diskussion rund ums eigene Geschäft. Sie zwingen ein Unternehmen dazu, die Perspektive des Kunden einzunehmen und sich gezielt und sorgfältig mit den strategisch relevanten Fragen zu beschäftigen. Auch wenn die neun Bauteile der Canvas rasch erfasst werden können, ist die effektive, kreative und schliesslich erfolgreiche Arbeit mit diesen Supertools neu und zunächst gewöhnungsbedürftig. Agiles Arbeiten erfordert, dass man das lieb gewordene Besteck beiseiteschiebt und sich neugierig und mutig neue Instrumente aneignet. Agilität mag ein Modebegriff geworden sein. Was sich dahinter aber verbirgt, ist letztendlich die Zukunftssicherung. Unserer Gesellschaft mangelt es heute nicht an professionellem Wissen. Die grosse Herausforderung liegt in der Fähigkeit, vorhandenes Know-how in Zusammenarbeit mit den richtigen Partnern (know who) in unternehmerischen und gesellschaftlichen Nutzen zu transformieren. Und man denke dabei an die alte Formel-1-Weisheit: «Wer immer alles unter Kontrolle hat, ist schlicht zu langsam!»