2020/11/11

von Birgit Riedel

Vor fünfhundert Jahren stellte Niccolò Machiavelli die Frage, ob es für einen Anführer besser wäre, geliebt oder gefürchtet zu werden und kam zu folgendem Schluss:

Es ist viel sicherer, gefürchtet als geliebt zu sein…” (Machiavelli)

Über lange Zeit war die Furcht das vorherrschende Modell. Kurze Anmerkung zu den Begriffen „Furcht“ und „Angst“: Furcht entsteht dann, wenn es eine konkrete Bedrohung gibt. Angst tritt dagegen in Situationen auf, die nicht eindeutig sind – sie ist ein allgemeines und diffuses Gefühl. In der Alltagssprache verwenden wir vorwiegend das Wort „Angst“ für beide Emotionen.

Bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts war körperliche Züchtigung in Schulen üblich und der Arbeitsplatz war eine weitgehend hierarchische und autokratische Arena. Heute würden Lehrer in den meisten Industrieländern sofort ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn sie einen Schüler schlagen, und auch im Büro zeigt sich Führung heutzutage von ihrer „weicheren“ Seite.

Aber selbst heute noch verlässt sich die ein oder andere Führungskraft auf die Angst, und viele Menschen lassen sich das auch weiterhin gefallen. Ich habe das im Laufe meiner Beratertätigkeit leider nur zu oft beobachtet. Viele Unternehmen leben immer noch eine Kultur der Angst, selbst in einer Zeit, in der die Gesellschaft immer fortschrittlicher und reflektierter wird.

Eines der Probleme ist, dass diese Art der Führung durchaus funktionieren kann. Angst ist ein sehr wirksamer Motivator, auch wenn sie ein unangenehmes Gefühl hervorruft. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Führen durch Angst Dinge bewirken kann. Für Menschen ist diese Emotion ein Urmotivator, der verhindern kann, dass der hungrige Löwe uns frisst. Das war vielleicht auch wichtig, als es noch viele Löwen gab. In einer Arbeitsumgebung gibt es aber keine Löwen mehr. Nur Menschen.

Was genau fürchten Mitarbeiter in einer Angst-Kultur?

Sie fürchten, ihren Job zu verlieren, kritisiert zu werden, vor ihren Kollegen und dem Chef schlecht auszusehen und sich wertlos und schlecht zu fühlen oder sie spüren das diffuse Gefühl der Angst, weil Dinge unklar, unausgesprochen und unsicher sind.

Selbst wenn eine Führungskraft sich selbst nicht als angsteinflößend sieht und bewusst und gezielt Angst auslöst, so kann sie allein aufgrund ihrer Autoritätsposition oder durch „Nichtfüllen“ eines Vakuums die Unsicherheit bei Mitarbeitern steigern und dadurch ungewollt Angst verursachen.

Jede Führungskraft sollte sich daher kritisch reflektieren: Was löse ich bei meinen Mitarbeitern aus? Bin ich eine Quelle der Angst? Oder fühlen sich meine Mitarbeiter sicher und vertrauen mir und den anderen im Team?
Mit Angst zu führen kann funktionieren, also warum ist das wichtig?

Durch Angst zu führen hat eine Reihe von „Nebenwirkungen“, die ich im Laufe meiner Tätigkeit beobachtet habe.
Schauen wir uns einige davon an:

Führen durch Angst hindert Menschen daran, ihr Bestes zu geben

Angstreaktionen rauben Kraft und Ressourcen, was dazu führt, dass nicht die volle Leistungsfähigkeit zur Verfügung steht. In einer Angst-Kultur werden Mitarbeiter wahrscheinlich nur das Minimum tun, um die Erwartungen zu erfüllen, die an sie gestellt werden. Sie werden das abliefern, was ihnen dabei hilft auf der sicheren Seite zu bleiben – aber mehr auch nicht!

Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Angst-Kultur eine toxische Kultur ist, die den Wunsch der Menschen untergräbt, über das hinauszugehen, was von ihnen erwartet wird. Eine Angst-Kultur wird niemals dazu führen, dass der Mensch aufblüht und sein Bestes hervorbringt.

Führen durch Angst hindert Menschen daran, das Wort zu ergreifen

Wenn man durch Angst führt, dann hören die Menschen auf, ihre Meinung zu äußern. Stattdessen stecken Führungspersönlichkeiten, die mit Angst führen in einem Vakuum fest, in dem sie nur sehr wenig Feedback erhalten. Fehler der Führungskraft werden nicht durch das Team korrigiert und die Qualität leidet.

Mitarbeiter sehen keinen Sinn darin, sich zu äußern, da sie Angst davor haben, für ihre Ideen kritisiert zu werden. Ich habe Meetings beobachtet, in denen ein ganzes Team schweigt, ohne der Führungskraft irgendein Feedback zu geben. Erst als das Meeting vorbei war, hörte man über den „Flurfunk“ wie die Mitarbeiter wirklich dachten und fühlten. Wie schade! Und so gibt es viele versäumte Gelegenheiten, gemeinsam etwas besser zu machen und zum Gelingen zu führen.

Und das größte Problem dabei ist, dass ein Team und einzelne Mitarbeiter vielleicht Dinge tun, von denen sie ganz genau wissen, dass sie scheitern werden – nur weil sie sich nicht trauen, etwas zu sagen. Sie können das bevorstehende Desaster sehen, aber sie werden einfach weitermachen – aus Angst, sie könnten als Überbringer schlechter Nachrichten in Ungnade fallen.

Führen durch Angst tötet (Selbst-)Vertrauen

Die vielleicht schädlichste Folge einer auf Angst basierenden Führung ist, dass sie das Vertrauen zerstört. Das Vertrauen untereinander, aber auch das Selbstvertrauen. Ich habe erlebt, wie sehr talentierte und kompetente Menschen ihr Selbstvertrauen verloren haben, nachdem sie lange Zeit durch auf Angst basierenden Führungspraktiken schikaniert wurden. Sobald diese Menschen ihr Selbstvertrauen verloren haben, hören sie auf, den Mund aufzumachen, sie hören auf, ihr Bestes zu geben. Im Grunde werden sie zu einer Art von Mitarbeitern, die sie nie sein wollten und die Führungskraft und das Unternehmen haben Mitarbeiter, sie sie so eigentlich nicht haben wollten.

Was eine Organisation braucht, sind Menschen, die Lust und Mut haben, sich einzubringen, die engagiert sind und unternehmerisch denken – Menschen, die bereit sind, „die extra Meile zu gehen“ für ihre Führungskraft und für ihr Unternehmen.

Um das zu erreichen, erscheint mir „Führen mit Vertrauen“ ein guter Weg.

Die Bereitschaft einer Führungskraft, anderen zu vertrauen, wird dazu beitragen, dass die Menschen wiederum dieser Führungskraft vertrauen und sich motivierter fühlen, einander zu helfen, einander zu unterstützen und dadurch noch mehr gegenseitiges Vertrauen aufzubauen – ein sich selbst verstärkender Mechanismus.

Und was kann man als Führungskraft tun, um das Vertrauen der Mitarbeiter zu gewinnen?

Sich und anderen verdeutlichen, was man will und wofür man steht

Um andere zu führen muss ich mir selbst darüber im Klaren sein, was mich motiviert, was mich inspiriert und was meine Werte und Überzeugungen sind. Es bedeutet, sich gegenüber anderen klar und ehrlich darüber zu äußern, was man will und wofür man steht. Ganz nach dem Motto: „Tun, was man sagt und sagen, was man denkt!“ – zumindest so gut es geht und möglich ist. Es wird auch immer Dinge geben, die man als Führungskraft für sich behalten muss.

Berechenbar und glaubwürdig sein

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Berechenbarkeit der Führungskraft. Wenn sich die Führungskraft wie ein „Fähnchen im Wind“ verhält, dann wird es schwer werden für die Mitarbeiter. Sie werden das Gefühl bekommen, sich nicht auf die Führungskraft verlassen zu können. Die Menschen brauchen die Gewissheit, dass eine Führungskraft ihren Verpflichtungen nachkommt und persönliche Verantwortung für Entscheidungen, Beschlüsse und Handlungen übernimmt. Manchmal bedeutet das, zu Entscheidungen auch dann zu stehen, wenn sie unpopulär werden.

 Verletzlichkeit zeigen und Vorbild sein

Vielleicht denkt jetzt der ein oder andere: „Gefühle und Verletzlichkeit haben im Job nichts zu suchen – da mache ich mich ja angreifbar!“ Ich bin da anderer Meinung. Wer den Mut aufbringt zu sich und seiner eigenen Unvollkommenheit zu stehen und sich verletzlich zu zeigen, wird aus meiner Sicht zu einer besseren Führungskraft. Und mal ehrlich, wir kennen sie alle: die perfekten, makellosen Menschen, die wir zwar irgendwie bewundern, aber mit denen wir nicht so richtig warm werden. Perfektion schafft Distanz und lässt keine Nähe zu. In Wirklichkeit ist es unsere Menschlichkeit in all ihren Facetten, die Nähe und Vertrauen entstehen lässt. Und auch hier sollte die Führungskraft ein echtes Vorbild sein.

 Echte Fürsorge spüren lassen

Zum Akt der Fürsorge gehört es, auf die Bedürfnisse der anderen im Team einzugehen, Hilfe anzubieten, Interesse zu zeigen und sich die Bedürfnisse des Teams und der einzelnen Mitarbeiter zu Herzen zu nehmen. Gute Führungskräfte sind einfühlsam und kümmern sich um ihre Mitarbeiter und nicht nur um die Arbeit, die sie tun. Mitarbeiter wollen wertgeschätzt werden. Gute Führungskräfte zeigen echtes Interesse für die Menschen und deren Leben. Was macht ihnen Freude? Wie geht es ihrer Familie? Wie geht es ihnen im Home-Office in Zeiten von Corona? Es tut Mitarbeitern gut, wenn ihre Führungskraft sich um sie als Mensch und nicht nur als „Arbeitstier“ kümmert.

Dialog und Austausch anregen

Gute Kommunikation trägt dazu bei, dass sich Menschen sicher fühlen. Es ist wichtig, den Mitarbeitern das Gefühl zu vermitteln, dass ihnen zugehört wird und dass sie verstanden werden. Was dabei hilft: Unvoreingenommenheit, Verwendung von offenen Fragen, eine lebhafte Diskussion von Informationen und die Anerkennung von Ideen. Wenn dieser Austausch gelingt, dann fühlen sich die Mitarbeiter respektiert, die Führungskraft informiert und gemeinsam hat man die Chance es richtig gut zu machen.

Zusammenfassend:

Führen mit Angst, auch wenn die Führungskraft dies gar nicht beabsichtigt, verhindert die Erreichung der möglichen Resultate. Führen mit Vertrauen ist die wirksamere Alternative. Es braucht Zeit, um in einem Team ein hohes Maß an Vertrauen zu entwickeln. Doch es lohnt sich! Es wird den Mitarbeitern ein Gefühl der Sicherheit vermitteln – eine gesunde Basis auf der sich der einzelne und das Team besser entfalten kann. Ein Team, das sich vertraut kann innovativer, kooperativer und produktiver sein und die Mitglieder in diesem Team (inklusive der Führungskraft) können aufblühen und über sich hinauswachsen – zu ihrem eigenen Wohl und dem Wohl des Unternehmens.