2021/03/03

von Christoph Feichtenschlager

Wenn ich mich mit Soziologen, PublicHealthExperten oder Patienten (also fast jedem) über Behandlungsmethoden und Gesundheitssysteme unterhalte, entsteht immer das gleiche Bild: Man ist dankbar für die Gesundheitsversorgung, die wir haben, aber… .

Das „Aber“ bezieht sich meist auf angeblich geschmackloses Krankenhausessen, grantige Ärzte und g‘schnappige Schwestern (nach mehreren Stunden Ambulanzdienst ist das menschlich), überfüllte Wartezimmer, und doch auch noch auf etwas wirklich Wichtiges: Die Entmenschlichung des Gesundheitswesens an sich. Sie drückt sich darin aus, dass immer weniger Zeit für den Patienten vorhanden ist, aber auch dadurch, dass immer mehr Leistungen zumindest zum Teil aber doch oftmals zur Gänze selbst zu tragen sind. Selbst die medizinische Welt, die den Menschen und seine Bedürfnisse ohne Ansehen seiner finanziellen Potenz im Zentrum haben sollte – wird immer ökonomischer. Dabei wird auf den Taylorismus zurückgegriffen, der in der modernen Wirtschaftswissenschaft schon lange überwunden ist: zu demotivierend, zu gesundheitsgefährdend. Trotzdem hält er im Gesundheitswesen immer weiter Einzug. Die dadurch erzeugten Probleme der Gesundheitswesen werden zum Problem des Gesundheitswesens.

Immer mehr Medizin-Ethiker und Medizin-Vordenker machen neben neuen Technologien genau diese Entmenschlichung zum Thema, beispielhaft seien Eric Topol aus den USA, Giovanni Maio aus Deutschland und Siegfried Meryn aus Österreich genannt. Sie weisen immer wieder auf die Notwendigkeit einer -auch technologisch unterstützen- Weiterentwicklung im Gesundheitswesen hin. Es ist ja immer gut, wenn g’scheite Leute die eigenen Beobachtungen bestätigen, das hilft in der eigenen Arbeit ungemein. ;-)

Das Kernproblem besteht in der täglichen medizinischen Praxis: ungenügende Daten, nicht ausreichend Zeit, keine ausreichende Begegnung zwischen Arzt und Patient, überbordende Dokumentation und Administration etc. Man schätzt inoffiziell, dass im Weltdurchschnitt ca. 30% Fehldiagnosen passieren und mindestens 50% aller Therapien abgebrochen werden. Die durchschnittliche Zeit, die ein bereits bekannter Patient bei einem Kliniker verbringt, beträgt 7 Minuten, bei einem neuen Patienten 12 Minuten. In dieser sehr kurzen und auch festgelegten Zeit findet fast kein Augenkontakt statt: Der Arzt muss ja die Daten in den Computer eingeben. Um es für die USA deutlich zu machen: jedes Jahr kommt es zu 12 Millionen ernsthaften Fehldiagnosen! Bei 350 Millionen Einwohnern macht das eine Wahrscheinlichkeit, selbst davon betroffen zu werden, die weit über einem Lottogewinn liegt.

 

 

Der oben genannte Taylorismus besteht nun darin, dass der Mensch als Patient wie auf einem Fließband durch die Kliniken und Krankenhäuser geschleust wird, während Mediziner als die modernen „Fließbandarbeiter“ im Sekundentakt ihre Leistungen vollbringen müssen – und zwar quasi im Akkord. Das ungute Gefühl wird auf beiden Seiten immer grösser: Patienten fühlen sich nicht betreut, ja sogar vernachlässigt und als Ware betrachtet; Ärzte fühlen sich unter Druck gesetzt, missverstanden und als Maschinen, die immer funktionieren müssen. Ein rücksichtsloser und gefährlicher Kreislauf, der Patienten, wie Ärzte aber auch Angehörige, Pfleger und Therapeuten sogar in psychische Probleme stürzt.

Doch welche Möglichkeiten haben wir, diesen Circulus Viciosus zu durchbrechen? Zunächst einmal muss ein neues Denken her, ein Denken, das Mut zu Neuem macht, ein Denken, das die Menschlichkeit berücksichtigt und nicht nur in primitiven Maschinenbahnen läuft. Beispiele müssen her, die zeigen, wie es besser ginge! – Eine Forderung, die man mittlerweile gut erfüllen kann, denn es gibt sie bereits.

Aus Sicht des Managements von komplexen Systemen – das ist das Gesundheitswesen mit Sicherheit – ist eine Abkehr vom Taylorismus unbedingt notwendig. Wir können heute mit Hilfe von Kybernetik und künstlicher Intelligenz die richtigen Steuerungsmodelle liefern. Wenn Kybernetik die Möglichkeit schafft, unsere Welt zu verstehen, ist künstliche Intelligenz das Werkzeug, um dieses neue nicht-lineare Verständnis Führungssysteme der Gesundheitswesen zu übersetzen. Die Forschung treibt die Entwicklung der KI mit rasenden Schritten voran. Möglicherweise werden wir alle eine Überraschung erleben: die neuen intelligenten Technologien könnten dem Gesundheitswesen die notwendige Menschlichkeit wieder zurückgeben, und dies bei einer höheren Effizienz, besseren Leistungen und geringeren Kosten.

Die Zukunft des Gesundheitswesens hat begonnen. Es ist Zeit, sich als Führungskraft damit zu beschäftigen.